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«Gesundes Wohnen»
Ein Konstrukt zur Vermittlung bürgerlicher Werte und Verhaltensnormen und seine praktische Umsetzung in der Deutschschweiz 1880–1940
Broschur
1995. 362 Seiten
ISBN 978-3-905311-72-3
CHF 59.00 / EUR 34.00 
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Es ist bekannt: Das Koordinatensystem, in dem das Leben und Denken in der industriellen Moderne befestigt ist - die Achsen von Familie und Beruf, der Glaube an Wissenschaft und Fortschritt -, gerät ins Wanken. Weitgehend unbekannt ist, wie sich diese bürgerlich geprägten Achsen industriegesellschaftlicher Werte und Verhaltensweisen überhaupt erst durchsetzten. Ausgangslage der Untersuchung bilden die Ende des 19. Jahrhunderts in zahlreichen Schweizer Städten durchgeführten Wohnungserhebungen. In diesen Gemeinschaftswerken von Nationalökonomie und Hygiene äussert sich eine umfassende wissenschaftliche Vorstellung dessen, was «gesundes Wohnen» zu sein habe. Letzteres erweist sich als von beiden Wissenschaften konstruierte bürgerliche Wirklichkeit, als eine Neudefinition des Menschen- und Gesellschaftsbildes. Als Hüterin dieser Wirklichkeit amtete die Wohnungsaufsicht. Ausgestattet mit strafrechtlichen Mitteln hatten die Behörden gegen das «ungesunde Wohnen» vorzugehen. Eindrücklich wird gezeigt, wie sich die staatliche Eindringpraxis in die Wohnungen auf die Lebenschancen und auf die alltägliche Erfahrung breiter Bevölkerungsschichten auswirkte, wie sich die betroffenen Menschen die geschaffenen Bedingungen ihres Handelns aneigneten und diese deuteten und dass es schliesslich komplexe Wechselwirkungen zwischen Anreiz und Druck waren, die die Durchsetzung der bürgerlichen Lebensführung bestimmten.
Pressestimmen
BARBARA KOLLER «GESUNDES WOHNEN» EIN KONSTRUKT ZUR VERMITTLUNG BÜRGERLICHER WERTE UND VERHALTENSNORMEN UND SEINE PRAKTISCHE UMSETZUNG IN DER DEUTSCHSCHWEIZ 1880-1940 CHRONOS, ZÜRICH 1995, 362 S., FR. 59.- Beim Lesen von Barbara Kollers Dissertation über das ideologische Konstrukt des «Gesunden Wohnens» fühlte ich mich unweigerlich an die Kontrollgänge der Feuerpolizei erinnert, die sich in der letzten Zeit an meinem Wohnort häuften. Ich fragte mich plötzlich, ob die amtlichen Heimsuchungen wirklich dem Brandschutz dienten. Denn eigentlich erachtete niemand im Haus die Topfpflanzen, die wir auf Geheiss der Feuerpolizei aus dem Treppenhaus entfernen mussten, als Gefährdung. Zudem fiel mir auf, dass ich an meinen früheren Adressen nie solche Kontrollen erlebt hatte. Stehen sie vielleicht in einem Zusammenhang mit meiner jetzigen Wohnumgebung, dem Zürcher Randständigenquartier Aussersihl? Oder haben sie womöglich sogar mit meinem Einbürgerungsgesuch zu tun? Diese vorweggenommen Überlegungen zeigen deutlich, welche Aktualität die Forschungen von Barbara Koller haben. Mit ihrer präzisen Analyse der Verwaltungsverfahren des Basler Gesundsheitsamtes liefert sie weit mehr als eine kenntnisreiche Detailstudie. Ihr Buch zeigt vielmehr in geradezu paradigmatischer Form die komplexen Wechselwirkungen zwischen gesellschaftlichen Werten, gesetzlichen Normen sowie privatem und staatlichem Handeln auf. Die Studie ist aber nicht nur deshalb relevant. Barbara Koller leistet einen hervorragenden Beitrag zur schweizerischen Sozial- und Alltagsgeschichte, indem sie die überlieferten Akten der Basler Wohnungskontrolle von 1907 bis 1934 akribisch durchforstet und mit grosser Umsicht interpretiert. Sehr zum Vorteil der abschliessenden Deutung der Resultate erweist sich auch die Einbettung dieser Analyse in den breiteren wissenschafts- und sozialgeschichtlichen Kontext, dem die erste Hälfte des Buches gewidmet ist. Dieser erste Teil beginnt mit methodischen und begrifflichen Überlegungen und geht dann auf die Lebenslage der expandierenden städtischen Unterschichten ein. Er behandelt die Entstehungsgeschichte der wissenschaftlichen Disziplin der Hygiene und zeigt deren Verknüpfungen mit den sozialpolitisch engagierten Ökonomen aus dem Umfeld der sogenannten Kathedersozialisten. Eingegangen wird auch auf die in der Schweiz verschiedenenorts durchgeführten Wohnungsenqueten, welche nicht zuletzt einen Professionalisierungsschub der amtlichen Statistik ermöglichten. Fortgesetzt wird die Analyse mit Hinweisen auf die Praxis der Wohnungsaufsicht in Basel, St. Gallen und Zürich. Genauer analysiert wird der Abstimmungskampf über das erste, in der Referendumsabstimmung abgelehnte Basler Wohnungsgesetz (1900). Im Übergang zum zweiten Teil des Buches wird den bürgerlichen Normen nachgespürt, welche durch die Wohnungsenqueten und die Wohnungsaufsicht verbreitet werden sollten. Wichtig ist in diesem Zusammenhang die physische und psychische Arbeitsfähigkeit, an der der Staat interessiert ist und durch die das Konzept der Volksgesundheit gefördert wird. Der Begriff der Arbeit erhält in diesem Normenkatechismus eine ebenso wichtige Rolle für die Identitätsfindung wie die geschlechtliche Rollenzuweisung in der Kernfamilie. Gerade letztere widersprach teilweise massiv den bisherigen Gewohnheiten der aus einem ländlichen Kontext zugewanderten städtischen Unterschichten. Der eigentliche empirische Teil von Barbara Kollers Arbeit umfasst vier Teile: Erstens schildert sie die institutionellen Rahmenbedingungen und die Kontrollverfahren. Im Zentrum der Analyse stehen Personen oder Familien, die Kost- oder Schlafgänger bzw. Kost- oder Schlafgängerinnen beherbergen oder solche, die Kost- und Pflegekinder haben oder in irgendwelche andere hygienische Verfahren verwickelt sind. Zweitens und drittens kommt das Verwaltungshandeln und dessen Verteidigung im Fall von Rekursen zur Darstellung. Es zeigt sich dabei, dass die Entscheidungen der Wohnungsaufsicht fast unanfechtbar sind, u. a. weil keine unabhängige Verwaltungskontrolle besteht. Die fehlende Einsichtsmöglichkeit in die Akten, die Methoden der Bespitzelung und die dabei waltende Willkür erinnern sehr an die Überwachungsapparate in totalitären Systemen. Die Untersuchung weist auch auf die Mechanismen der Unterordnung hin, die der Staat hiermit auf die Ausgegrenzten anwendet. Viertens schliesslich geht Koller auf die Klagenden und die Beklagten ein. Sie entwirft dabei ein vielschichtiges Bild, welches zeigt, wo, von wem und warum «ungesundes Wohnen» beanstandet wird. Interessant ist dabei, dass ein grosser Teil der Klagen von Nachbarinnen und Nachbarn ausgeht. Offensichtlich bedienen sich viele Unterschichtsangehörige der Klagemöglichkeit im Wohnungsgesetz dann, wenn sie ihnen ermöglicht, sich an ihren Vermieterinnen oder Vermietern schadlos zu halten oder sich statusmässig abzugrenzen. Dieses Stichwort - auf eine andere Ebene transponiert - passt auch zur einzigen fundamentalen Kritik, die an Barbara Kollers Arbeit geübt werden kann: Während der zweite quellennahe Teil sehr leserlich ist, kommt der erste Teil streckenweise in einem derart verklausulierten, «wissenschaftlichen» Sprachstil daher, dass er für ein breiteres Publikum nur schwer verdaulich ist. Gerade bei diesem sehr interessanten Thema ist dies bedauerlich, weil die Rezeption dadurch stark eingeschränkt wird. Einer der Höhepunkte dieser akademischen Sprachspiele ist folgender Satz: «Sozialpolitisches und sozialpsychologisches Ziel musste demnach sein, über die soziale Disziplinierung einerseits die Nichtkoinzidenz individuellen Verhaltens zu beseitigen, um damit anderseits den in einem umfassenderen Rahmen nötigen sozialen und mentalen Konsens zu erreichen.» Letztlich weisen solche Formulierungen, die typischerweise in Abschlussarbeiten und Dissertationen nie auf die kritischen Augen eines Lektors oder einer Lektorin treffen, auf die prekären Produktionsbedingungen des wissenschaftlichen Nachwuchses hin. Da liegt die Autorin des besprochenen Buchs gar nicht so weit von den beschriebenen Unterschichten entfernt, wenn auch ein paar Fahrstuhletagen höher. Während die bedrängten Arbeiterinnen und Arbeiter mittels Nachbarschaftsklagen aus der elenden Masse hervorzustechen versuchten, geht es in Dissertationen meist darum, sich von den heute normal gewordenen Akademikermassen abzuheben. Franz Horvath (Zürich) Traverse 1997/1 (183-185)