Inferiorität und Hyperpatriotismus?
Schweizer Katholizismus im Zeitalter der Totalitarismen
Von Victor Conzemius
Die derzeitige Diskussion über die Schweiz im Zweiten Weltkrieg beschränkt
sich nicht auf politische und wirtschaftliche Aspekte. Sie berührt auch
moralische Probleme, ohne die die grosse Resonanz der Diskussionen nicht
verständlich wäre. In die historische Rückfrage werden deshalb auch die
Kirchen einbezogen, die den Anspruch erheben, moralische Instanzen zu sein.
Für den historischen Rückblick war die reformierte Seite besser als die
römisch-katholische gerüstet. Hermann Kochers Untersuchung «Rationierte
Menschlichkeit» (Chronos-Verlag, 1996), die den Deutschschweizer
Protestantismus und die Flüchtlingspolitik behandelt, erschien rechtzeitig
zum Zeitpunkt, als die bisher auf Spezialisten beschränkte Diskussion auf
die Öffentlichkeit übergriff. Auf katholischer Seite wurden diese seit
längerem schwelenden Fragen zunächst nicht wahrgenommen. Schweizerische
Kirchengeschichte war in der Zeit der grossen Aufbrüche des Schweizer
Katholizismus nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil kein Thema.
Zeitgeschichte galt ohnehin als unseriös und «unwissenschaftlich».
Dieser Tatbestand ist eine Fernwirkung jener Distanz zur tonangebenden
Kultur, die für den schweizerischen Katholizismus der Neuzeit über die erste
Jahrhunderthälfte hinaus charakteristisch war. Wohl hatte das katholische
Milieu eine respektable Konfessionskultur aufgebaut, deren Geschlossenheit
auf allen Gebieten von politischer Organisation hin zum Schul- und
Sozialwesen imponierte. Innerhalb der Gesamtgesellschaft jedoch begegnete
man ihr mit Zurückhaltung oder mehr oder weniger respektvollem Misstrauen.
Als J. R. v. Salis sich in den zwanziger Jahren um eine Stelle bei der NZZ
bewarb, wurde die Bewerbung abgelehnt, weil man den Historiker irrtümlich
der katholischen Linie der v. Salis zurechnete. Man habe bereits einen
Katholiken (Eduard Korrodi), der genüge. Bis weit in die sechziger Jahre gab
es kaum Katholiken an geisteswissenschaftlichen Fakultäten der grossen
Schweizer Universitäten: in den Naturwissenschaften waren sie etwas früher
geduldet.
KATHOLISCHE BINNENKULTUR
Der deutsche Jesuit Friedrich Muckermann, der die Schweiz vor 1933 öfter
besuchte, stellte bei zahlreichen Katholiken Minderwertigkeitskomplexe
fest. Zudem hätten sie es schwer, die Anliegen einer jüngeren Generation zu
verstehen, die gerne zurückgepfiffen werde, wenn sie sich allzusehr aus
ausgetretenen Pfaden entferne. Ein gewisser Hyperpatriotismus, der als
Reaktion auf die seit 1848 beargwöhnte nationale Zuverlässigkeit der
Katholiken zutage trat, wurde in Zeiten der Bedrohung aktiviert. Der
Episkopat unterstützte vorbehaltlos die Politik der Landesregierung und trat
in Hirtenschreiben für die geistige und militärische Landesverteidigung
ein. Besonders eifrig war Bischof v. Streng von Basel, der einen
Hirtenbrief zum 1. August 1938 verlesen liess und 1940 für das
eidgenössische Wehropfer, den Landhilfsdienst und die Anbauschlacht warb.
Dem Klerus wurde politische Abstinenz eingeschärft. Diese Empfehlung
richtete sich wohl nicht gegen die katholisch-konservative Partei; sie
betraf vor allem den Faschismus, den Nationalsozialismus, den Frontismus und
den Kommunismus.
Gegen diese Bewegungen war der katholische Volksteil gut abgeschirmt. Die
Stellungnahmen der Päpste hatten klare Abgrenzungen gegenüber den
totalitären Staatssystemen gezogen. Trotz den Lateranverträgen von 1929
brachen in Italien Staat-Kirche-Konflikte aus. In Deutschland kam es trotz
dem Konkordat von 1933 zu einem regelrechten Kirchenkampf. Seine Heftigkeit
wurde nicht nur von der katholischen Publizistik registriert.
Sympathisanten des Nationalsozialismus waren deshalb im Schweizer
Katholizismus selten. Es ist bemerkenswert, dass in der Liste der
Zweihundert, die 1940 eine Anlehnung der Schweiz an Deutschland
befürworteten, kaum ein Innerschweizer zu finden ist. Allerdings hatte der
Schweizer Katholizismus auch niemand, der wie Karl Barth aus eigener
Erfahrung den Kirchenkonflikt und das menschenverachtende, totalitäre
Regiment in Deutschland kennengelernt hätte und in der Schweiz Gewissen
aufrüttelte. Abgesehen von der einzigartigen Kämpfernatur Barths und seines
theologischen Formates wäre das auch aus anderen Gründen nicht möglich
gewesen.
Wer in die Schweiz zurückkehrte, war der junge, damals noch unbekannte
Jesuit Hans Urs von Balthasar, der aus der Redaktionsstube der «Stimmen der
Zeit» in München als Studentenseelsorger nach Basel hinüberwechselte. Oder
etwa der aus dem Sankt-Gallischen stammende Landpfarrer J. Georg Huber, der
es angesichts des weltanschaulichen Konflikts in der Diözese Augsburg nicht
mehr aushielt. Schweizer Theologen an katholischen Fakultäten in
Deutschland gab es keine. Sie sind ein Novum seit dem Zweiten Vatikanischen
Konzil. Das beruhte auf einer gewissen kirchlichen Arbeitsteilung. Der
Dominikanerorden, der den Lehrkörper der theologischen Fakultät in Freiburg
stellte, hatte ein Monopol der Klerikerausbildung; die Kleriker ihrerseits
wurden rigoros für die Pfarrseelsorge eingesetzt. Wer über das übliche
Theologiestudium hinaus eine Vertiefung in akademischer Richtung anstrebte,
hatte praktisch nur die Möglichkeit, in einen Orden einzutreten.
Es ist daher bezeichnend, dass diejenigen Persönlichkeiten, die in
besonderer Weise die Zeitprobleme wahrnahmen und darauf reagierten, zum
totalitär beherrschten Ausland Beziehungen besassen. Das traf sicher zu auf
die Jesuiten und andere in der Schweiz niedergelassene
Ordensgemeinschaften, deren deutsche Häuser ihre Erfahrungen mit dem
Nationalsozialismus gemacht hatten. Um den in Luzern ansässigen
Priesterschriftsteller Otto Karrer - ursprünglich Deutscher, 1935
naturalisiert - sammelten sich deutsche und österreichische Emigranten. Den
Freiburger Seminarprofessor Charles Journet bewahrte seine Freundschaft mit
Jacques Maritain - belegt durch seinen imposanten, im Erscheinen
begriffenen Briefwechsel - vor einer allzu genügsamen schweizerischen
Binnensicht.
Seine Zeitschrift «Nova Vetera» zeichnet sich durch eine ausgesprochene
Sensibilität für Flüchtlingsfragen und ein ständiges Einmahnen
christlicher Solidarität und Parteinahme für die gehetzten Juden aus. Von
New Jersey aus bestürmte die Auslandschweizerin Helen Froelicher-Stehli
ihren Bekanntenkreis, insbesondere Bischof v. Streng, doch mehr für die
Flüchtlinge in der Schweiz zu tun. Der Caritas-Direktor Giuseppe Crivelli,
der eine aussergewöhnliche Dynamik entfaltet, als er in den Kriegsjahren die
Leitung des Hilfswerkes übernimmt, hatte während seiner Studienjahre in
Freiburg i. Br. gelebt und den Nationalsozialismus aus eigener Anschauung
kennengelernt.
Die Schweizer Bischöfe liessen es weniger auf programmatische Erklärungen
ankommen als auf Interventionen für Einzelne. Die Bischofskonferenz, obwohl
1863 gegründet, besass damals nicht das Format, das ihr erst nach dem
Zweiten Vatikanum zugewachsen ist. Ein ausgeprägtes
Diözesankirchenbewusstsein war eher hinderlich für gemeinsame Initiativen.
Es lag aber auch in der Natur der Sache, im Bereich öffentlicher
Manifestationen und Interventionen mit besonderer Sorgfalt und Zurückhaltung
vorzugehen. Denn es sollte ja keine Protest-Show für die Nachwelt
organisiert werden, sondern Menschen in extrem schwieriger Situation
erfolgreich geholfen werden. Besonders deutlich zeigte sich dies in der
Haltung von Bischof Besson von Freiburg. In Freiburg war in den zwanziger
Jahren das Bewusstsein für die internationale Verflochtenheit des
Katholizismus gewachsen. Besson ist für Einzelpersonen, auch solche
jüdischer Herkunft, bei schweizerischen Stellen eingetreten. Das war nur
dann aussichtsreich, wenn er sich einen gewissen Kredit bei jenen Stellen
erhalten konnte, die in der Lage waren zu helfen. Deshalb geriet er in
Konflikt mit Abbé Journet, der sich nicht scheute, in seiner Zeitschrift die
Zustände in Deutschland und in den besetzten Ländern offen darzulegen, und
der mit der schweizerischen Zensur einen Schlagabtausch hatte.
DAS DILEMMA VON EMIGRANTEN
In einem anderen Dilemma befanden sich Emigranten, die ihre Aufgabe darin
sahen, die Weltöffentlichkeit über die Vorgänge in Deutschland aufzuklären.
In Luzern gab Waldemar Gurian, der Berner Publizist und spätere Begründer
der «Review of Politics» an der University of Notre- Dame, ein
Informationsblatt «Deutsche Briefe» heraus, das besonders auf die
NS-Kirchenpolitik einging. 1935 wollte Gurian einen Brief von Karl Barth
publizieren, den dieser an den hessischen Pastor Immer über seine
Erfahrungen in Deutschland geschrieben hatte. Barth brachte u. a. darin zum
Ausdruck, dass auch die Bekennende Kirche einmal, wenn Lüge und Unrecht zum
Prinzip erhoben würden, in die Lage kommen könnte, um Befreiung von einer
fluchwürdig gewordenen Tyrannei zu beten. Diese Einsicht bestehe jetzt noch
nicht. Doch er verweigerte Gurian den Abdruck des Briefes mit der
Begründung: «Der Zweck meines Briefes konnte ja nicht der sein, die Leute
von der Bekennenden Kirche draussen zu einem Kampf aufzufordern, für den ich
selbst die Verantwortung nicht mehr mit übernehmen kann.»
Gurian seinerseits wollte Barth als Sekundanten für seine Bemühungen
gewinnen, die deutschen Bischöfe von der Notwendigkeit entschiedeneren
Auftretens gegen die Rechtsbrüche des Nationalsozialismus zu überzeugen.
Ihre auf den kirchlichen Bereich eingeengte Perspektive verglich er mit der
Haltung des heiligen Ambrosius von Mailand, der tyrannischen heidnischen
Statthaltern und Kaisern im 4. Jahrhundert entgegengetreten war. Den
Bischöfen missfiel die Belehrung aus dem Ausland. Sie waren der Auffassung,
sie beurteilten die Situation besser. Es kam zu einer Intervention des
Nuntius, der Zurückhaltung anmahnte bei der Herausgabe von Informationen
über die Kirchenverfolgung in Deutschland. Die Fakten seien leider wahr,
doch müssten negative Rückwirkungen in Deutschland befürchtet werden.
Nach der Reichskristallnacht im November 1938, die die Judenverfolgung in
Deutschland einem weiteren Höhepunkt entgegentrieb, versuchten einige
Emigranten, an Papst Pius XI. zu gelangen. Er solle in einer
Weihnachtsansprache ein Wort für die grausam verfolgten Juden einlegen. Es
ist nicht sicher, ob das erst in der Woche vor Weihnachten vorliegende
Schreiben, das John Österreicher, ein Priester jüdischer Herkunft,
entworfen hatte und das der Utrechter Professor Schmutzer nach Rom
weiterleiten sollte, in die Hände des Papstes gelangte.
An den Papst zu gelangen war denkbar. Doch kaum vorstellbar war, dass aus
katholischen Kreisen eine couragierte Persönlichkeit wie Gertrud Kurz im
August 1942 an Bundesrat v. Steiger gelangte, um eine Lockerung der
Einreisegesetzgebung zu erreichen. Daran war nicht nur der traditionelle
kirchliche Antijudaismus schuld, den es katholischerseits ebensosehr wie
andernorts auch in seinen vulgären antisemitischen Varianten gab, sondern
auch die Konzentration auf das Eigene und die Scheu, ausserhalb dieses
abgezirkelten Geländes zu intervenieren. Zuständig hielt man sich nur für
die eigenen Leute.
Auf lokaler und regionaler Ebene, wo persönliche Beziehungen ins Spiel
gebracht werden konnten, waren Interventionen zugunsten von jüdischen
Flüchtlingen durchaus möglich. Bischof Jelmini, apostolischer Administrator
der Diözese Lugano, stellte katholische Einrichtungen wie Schulen und
Institute zur Aufnahme von Tausenden von italienischen Flüchtlingen zur
Verfügung, die seit 1943 ins Tessin strömten. Darunter befanden sich
zahlreiche Personen jüdischer Herkunft.
Die schweizerische Caritas, deren Personalbestand und Budget nicht mit dem
heutigen Stand verglichen werden dürfen, baute ihre Flüchtlingsabteilung
aus. Der Personalbestand stieg von 2 oder 3 Mitarbeitern vor dem Krieg auf
33 im Jahre 1944. In den Jahren 1935 bis 1945 wandte die Caritas mehr als
4,4 Millionen Franken auf, was ohne besondere finanzielle Anstrengungen
des wirtschaftlich weniger begünstigten katholischen Milieus nicht möglich
gewesen wäre. 1936 bis 1939 betreute die Caritas 3000 Emigranten. Den
meisten davon konnte sie zur Auswanderung verhelfen. Ihren grossen
Aufschwung erlebte sie erst 1944/45. Jener Basler Jesuit, der 1942 nach Rom
schrieb, er wisse nicht, wie die Schweiz ihr relatives Wohlergehen inmitten
allgemeiner Zerstörung verdient habe, sah richtig. Sie sei deswegen so
glimpflich weggekommen, meinte er, weil sie für stille und zähe Mitarbeit
am künftigen Europa bestimmt sei. «Wir können uns dann nicht der Siege
rühmen, müssen auch keine Niederlage betrauern, haben also nur den schönen
Mittelweg, allen Völkern, die es wünschen, zu helfen, soweit es uns möglich
ist.» Die Frage, ob diese Aufgabe nicht bereits zu einem früheren Zeitpunkt
hätte wahrgenommen werden können und sollen, bleibt eine Frage, die auch der
Historiker nicht ganz zu beantworten vermag.
Die Qualifikation des Historikers kommt am stärksten zur Geltung, wenn er
möglichst genau festhält, was geschah und warum Notwendiges oder
Wünschenswertes unterblieb. In der Schärfe der Analyse und nicht im
vorlauten und heute kostenlosen Moralisieren liegt sein Beitrag zur
ethischen Problematik geschichtlicher Vorgänge.
Der Verfasser, in Luzern lebender Kirchenhistoriker, wurde von der
Römisch-Katholischen Zentralkonferenz beauftragt, eine Studie über die
katholische Schweiz zwischen 1933 und 1945 in die Wege zu leiten.
Abgedruckt mit freundlicher Genehmigung der NZZ.
Neue Zürcher Zeitung LITERATUR 09.03.1998 Nr. 56 26
«Hermann Kochers umfassendes Werk über die Flüchtlingsarbeit des schweizerischen Protestantismus 1933–1948 erschien just in dem Moment, als die Debatte über die Schweiz im Zweiten Weltkrieg begann. Kochers Analyse sei vorweggenommen: Der schweizerische Protestantismus hat in den Kriegsjahren zur Linderung der Not (jüdischer) Flüchtlinge einen Beitrag geleistet. Dabei musste er einen weiten Weg zurücklegen von tiefsitzendem Antijudaismus hin zu biblisch begründeter Solidarität.»
Reformierte Presse