Standen die 20er Jahre im solothurnischen Gerlafingen unter dem Zeichen der sozialen, kulturellen und politischen Spaltung (Gerlafingerstreik 1920), fand man zehn Jahre später eine Dorfgemeinschaft vor, die aufgeblüht und durch Versöhnung, Solidarität, Sozialpartnerschaft gekennzeichnet war. Das Staunen über diese Entwicklung von der Spaltung zur Integration wird von Kienzle als Ausgangspunkt genommen, um zu fragen, wie die Integration der dörflichen Gesellschaft Gerlafingens nach 1918 anhand demografischer, sozialräumlicher, sozialer und kultureller Strukturwandlungen und -er-haltungen als soziokultureller Prozess verstanden werden kann. Die Entwicklung Gerlafingens von einem Dorf mit einer Fabrik zu einer Industriegemeinde, in welcher das Unternehmen Von Roll AG einerseits die führende Rolle spielte und andererseits zentral zur Identität der dörflichen Gesellschaft gehörte.
Kienzle geht von der These aus, dass die Integration der dörflichen Gesellschaft endogene Ursachen aufweist und nicht auf der Ebene «Entwicklung der Konkordanzdemokratie» oder «Bedrohung durch den Faschismus» abgehandelt werden kann. Unter Integration versteht der Autor die Eingliederung sozialer Gruppen in einen sich insgesamt wandelnden Herrschaftsverband bei gleichzeitiger Herausbildung gemeinschaftlicher Wertvorstellungen und kultureller Orientierungen von Integrierenden und Integrierten.
Gerlafingen gilt als Mehrheitstypus einer ländlichen Industriegemeinde und stellt aus diesem Grunde ein durchaus repräsentatives Untersuchungsobjekt für eine Detailgeschichte dar.
In einem ersten sozialgeschichtlichen Teil der Arbeit stellt der Autor die Symbiose von Dorf und Fabrik dar. Zwischen dem Industriebetrieb und den ansässigen Bauernfamilien entwickelten sich beiderseits vorteilhafte Beziehungen. Die Bauern konnten der von Roll Land verkaufen oder ein Gewerbe aufbauen. Das Wohlwollen dankte der Industriebetrieb durch die Finanzierung einer Schule, einer Kirche. 70% der Steuereinnahmen der Gemeinde stammten aus dem Eisenwerk. Die Fabrik stellte der Gemeinde auch ihre Verwaltungskompetenz zur Verfügung: sie verwaltete die Einwohnergemeinde. Um 1930 lebten rund drei Viertel der Gerlafinger Bevölkerung von im Werk erzielten Einkommen. Die Entwicklung der gemeindeeigenen Dienstleistungen hing so direkt von der Finanzkraft der Industrie ab (Kanalisation, Verwaltung). Über die moralische Integrität der Gemeinde wachten die führenden Leute der Firma Von Roll als Kirchgemeinde- und Schulkommissionspräsidenten.
Im Branchenvergleich erhielten die im Eisenwerk beschäftigten Personen niedrigere Löhne, im Gegenzug profitierten die Arbeiter von günstigeren Mieten der Fabrikwohnungen, Verpachtung von Pflanzland und anderen Vergünstigungen. Privilegiert waren vorab verheiratete Stammarbeiter mit Familien. Ihnen gegenüber standen junge, ledige und mobile Arbeiter. Die Anbindung von Stammarbeitern an die Unternehmung ersparte diesem hohe Fluktuationskosten und förderte die Identifikation mit dem Betrieb. Dafür bemühte sich die Werkleitung, in ökonomisch schwierigen Zeit die Belegschaft in patriarchalisch-gemeinnütziger Art zu erhalten.
Dieser patriarchalische Grundzug definierte denn auch Rollenvorstellungen, Ein- und Ausgrenzungen (Metalog): Frauen wurden in erster Linie als Hausfrauen definiert, die Hierarchie der Fabrik (Kaufmann, Meister, Vorarbeiter, Arbeiter) bildete sich auch im dörflichen Leben wieder ab. Die Arbeiterorganisationen erreichten zwar zwischen 1917 und 1921 beachtliche Mitgliederzahlen. Der geschickte Aufbau von Sozialversicherungskassen durch das Eisenwerk erschwerte dem Schweizerischen Metall- und Uhrenarbeiterverband (SMUV) und der Sozialdemokratischen Partei jedoch eine wirksame klassenkämpferische Rhetorik. Auf die Arbeit von Hagmann (1980) gestützt, kommt Kienzle deshalb zum Schluss, der Integration der Arbeiterschaft sei eine Kapitulation vorausgegangen.
In einem zweiten Teil wird diese kapitulierende Integration auf dem Hintergrund des Wandels der immateriellen Strukturen bzw. der Wertvorstellungen untersucht und theoretisch begründet. Integration und Kultur werden also in Beziehung zu Herrschaft gesetzt; es wird nach dem kulturellen Wandel im Verhältnis zum Wandel der Öffentlichkeit, zur psychosozialen Stabilisierung gefragt. Insbesondere untersucht die Arbeit die Entwicklung des dörflichen Schatzes an gemeinsamen Deutungsmustern, Verhaltensnormen und Wertvorstellungen und analysiert die entsprechenden Diskurse bzw. Diskursträger (Institutionen). Ausgehend von Habermas definiert der Autor die Diskurse als bedeutungsproduzierende Praktiken; diese Umschreibung wird angereichert durch kommunikationspsychologische Erklärungen, die jedoch eher verwirrlich sind.
«Es gibt nur ein Gerlafingen!» stellt eine solche bedeutungsproduzierende Aussage dar, die der freisinnige Führer Gerlafingens 1927 machte, obwohl das Dorf damals noch gespalten war. Der dauernden patriarchalischen diskursiven Reproduktion der herrschenden Kultur in der Kirche, in der Schule, an Dorffesten, im Hauswirtschaftsunterricht, in der Betriebszeitung, an den Gemeindeversammlungen konnte sich schliesslich auch die Linke nicht entziehen. Die Integration des seit dem Landesstreik 1918 gespaltenen dörflichen Lebens findet auf der Basis einer gemeinschaftlichen Kultur statt, die in den 30er Jahren als Heimatkultur einen kohärenten Satz gutbürgerlicher, patriotischer und christlich fundierter Normen zum Allgemeingut werden lässt. Diese Diskurse hatten letztlich die Funktion, die paternalistische Herrschaft zu reproduzieren.
So beschreibt Kienzle den Pendelschlag vom «Babylon» (Gespaltenheit) des Dorfes in den 1920er Jahren zum Einheitsdiskurs auf der Grundlage paternalistischer Rhetorik in den 30er Jahren als Kapitulation der Arbeiterschaft und ihrer Organisationen entgegen ihren (angenommenen) Interessen. Diese normative Aussage steht für sich im Raum und kann quellenmässig nicht belegt werden.
Die Arbeit von Kienzle basiert auf den Quellen der Von Roll AG und der Gemeinde Gerlafingen. Zusätzlich wurden Interviews mit Personen der Jahrgänge 1901 und 1910 einbezogen. Diese vorliegenden Quellen wurden theoriegeleitet ausgewertet und auch zu aussagekräftigen Statistiken aufgearbeitet. Nicht bearbeitet wurden die Quellen der SMUV-Sektion Gerlafingen wie auch die vorhandenen Akten der Metall- und Maschinenindustrie im Archiv des SMUV.
Insgesamt stellt die vorliegende Arbeit eine wichtige und lesenswerte Darstellung der Entwicklung einer ländlichen Industriegemeinde dar, in welcher exemplarisch die «sanfte Macht» eines übermächtigen Industriebetriebs mit seiner alles durchdringenden Herrschaft analysiert wird. Die Dissertation von André Kienzle ist damit ein wichtiger Baustein zur kritischen historischen Analyse des Paradigmas «Vom Klassenkampf zur Sozialpartnerschaft».
Markus Kübler (Spiez)
traverse Zeitschrift für Geschichte Revue d'histoire 1999 / 02