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Eine Schweiz für die Schule
Nationale Identität und kulturelle Vielfalt in den Schweizer Lesebüchern seit 1900
Broschur
1994. 422 Seiten
ISBN 978-3-905311-38-9
CHF 58.00 / EUR 32.50 
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Welche Bilder der Schweiz finden Kinder und Jugendliche in ihrer Literatur? Was für Leitbilder werden angeboten in Texten, die speziell für Kinder und Jugendliche veröffentlicht werden? Wie unterscheiden sich solche Texte je nach Sprachregion? Mit solchen Fragen befassen sich die vorliegenden Publikationen.
Die Kinder- und Jugendliteratur ist in ihren bis heute gültigen Formen im ausgehenden 18. Jahrhundert entstanden als Teil des neuen Erziehungssystems, dessen Ziel der «zivilisierte», an die bürgerliche Produktions- und Lebensweise angepasste Erwachsene war. Der Kinderliteratur fällt in diesem System die Rolle zu, Sachwissen und ethische Vorstellungen anschaulich und unterhaltsam zu vermitteln. Von daher bietet die Kinderliteratur aufschlussreiches Material zur Mentalitätsgeschichte.
Die Schweizer Kinderliteratur hat von Anfang an besonderes Gewicht auf staatsbürgerliche Tugenden gelegt. Die Autorinnen untersuchen diese Tugenden in zwei Bereichen, in denen in besonderem Mass politische Intentionen und gesellschaftliche Prozesse wirksam werden: Lesebücher und Erzählungen aus der Schweizer Geschichte.
Die drei Arbeiten befassen sich mit Lesebüchern der deutschen und französischen Schweiz seit Ende des 19. Jahrhunderts, den Tessiner Lesebüchern seit 1830 und mit historischen Erzählungen aller Sprachregionen. Sie stellen ihre Entwicklung und die Produktionsbedingungen dar sowie die in ihnen vermittelten Wertvorstellungen. Interessiert hat vor allem der Zusammenhang mit jenen politischen Tendenzen in der Schweiz, die jeweils verstärkte Bemühungen um ein nationales Bewusstsein hervorriefen. Ausgangspunkt für eine eingehendere Interpretation der historischen Erzählung sowie der Lesebücher sind die 80er Jahre des 19. Jahrhunderts: Aus pädagogischen und auch politischen Gründen setzte damals eine neue Entwicklung in der Konzeption von Lesebüchern sowie in der Beurteilung von Jugendbüchern ein.
Die Einzelarbeiten gehen Fragen der regionalen Eigenheiten und der kulturellen Vielfalt nach. Im Vergleich untereinander geben sie weiteren Einblick in unterschiedliche Konstruktionen einer «schweizerischen Identität» in den verschiedenen Sprachregionen.
Besprechungen
Eidgenössische Selbstbildnisse Historische Jugendromane und Lesebücher im 20. Jahrhundert Im Rahmen des 1985 vom Bundesrat in Auftrag gegebenen Forschungsprogramms 21 über «Kulturelle Vielfalt und nationale Identität» ist zwischen 1986 und 1991 am Schweizerischen Jugendbuch-Institut eine Studie entstanden, die sich gezielt mit dem «Schweizerischen Selbstverständnis in der Literatur für Kinder und Jugendliche» beschäftigt hat. Im Zentrum standen historische Jugendbücher sowie offizielle Lesebücher in Schweizer Schulen. In drei Teilstudien haben sich drei Autorinnen mit einer Frage auseinandergesetzt, die in Zeiten einer intensiven und kontroversen innerschweizerischen Auseinandersetzung mit der sogenannten «Europafrage» besonders aufschlussreich erscheint: Mit Hilfe welcher Bilder und Themen wurden in den vergangenen hundert Jahren Schweizer Kinder und Jugendliche im Rahmen von explizit für sie verfassten Texten mit ihrem Staat, ihrem Kanton bekannt gemacht, und mit welchen Mitteln wurden sie zu nationaler Identität erzogen? Für zwei der Arbeiten sind Texte aus beinahe dem gesamten Bundesgebiet untersucht worden - sie sollen hier kurz vorgestellt werden. (Die dritte Studie beschäftigt sich ausschliesslich mit Tessiner Lesebüchern seit 1830.) «Pflege eines nationalen Sinnes» In «Fortschritt und Freiheit. Nationale Tugenden in historischen Jugendbüchern der Schweiz seit 1880» von Verena Rutschmann steht die ausserschulische Produktion von Lesetexten für Jugendliche im Vordergrund - das heisst intendiert literarische Texte, die beschränkt zugänglich waren. Wie in der Studie einleitend ausgeführt wird, steht die Entwicklung einer eigenen Kinder- und Jugendliteratur in der Schweiz zu Beginn des 19. Jahrhunderts in direktem Zusammenhang mit der Staatsbildung. Die Vermittlung eines gesamtschweizerischen Nationalbewusstseins gehörte deshalb von Anfang an zu ihren Aufgaben - musste ein solches Bewusstsein doch vor allem politisch begründet werden (mangels Identität durch gemeinsame Sprache bzw. einheitlichen Kulturraum). Bilder aus der helvetischen Vergangenheit waren dabei besonders gefragt, aber auch die Topographie des Landes bot Ansatzpunkte für identitätsstiftende Topoi. Im Zuge der Bemühungen zur «Pflege eines nationalen Sinnes» gegen Ende des 19. Jahrhunderts beklagte man den Mangel an geeigneten Schweizer Jugendbüchern. Wie Verena Rutschmann deutlich macht, waren es bis nach dem Ersten Weltkrieg fast ausschliesslich deutsche Autoren, welche historische Romane für Jugendliche verfassten - die auch in der Deutschschweiz gelesen wurden. Erst Anfang der zwanziger Jahre wurde die Schweizer Geschichte der (eigentlichen) Fiktion erschlossen, als die Kinder- und Jugendliteratur generell einen Aufschwung erlebte - die innere Krise verstärkte die Abwehrreflexe gegen Einflüsse von aussen. Da das gesamte Netz der Kinder- und Jugendliteratur (Produktion, Vertrieb, Vermittlung) in der Deutschschweiz sich im direkten Einflussbereich der Schule befand, war das Bild der Schweiz gerade in historischen Romanen von recht einheitlichen Gesellschaftsauffassungen und den damit verbundenen Heimatbegriffen und Tugendkatalogen geprägt. Etwas verschieden zeigte sich dagegen die Situation in der Romandie. Das wird bereits aus der Tatsache ersichtlich, dass im Gegensatz zur Deutschschweiz vor allem Frauen als Verfasserinnen von historischen Romanen in Erscheinung traten, die im übrigen ausserhalb der Lehrerschaft standen. Zudem wurde literarischen Aspekten deutlich mehr Stellenwert eingeräumt als pädagogischen (in der Deutschschweiz wiederum genau umgekehrt). Mit lustvoller Sachlichkeit arbeitet Verena Rutschmann die helvetischen Selbstdarstellungsmodelle von Schweizer Jugendbuchautorinnen und -autoren heraus, wobei der Hauptteil jenen Büchern gewidmet ist, die in der für die Mehrheit der heutigen «Erwachsenengeneration» prägenden Zeit zwischen den zwanziger und den sechziger Jahren entstanden sind. Im Zentrum der Untersuchungen stehen der Heimatbegriff, der Begriff von Gesellschaft bzw. Volk sowie das vermittelte Familienbild. Die Ergebnisse sind nicht selten überraschend, kann die Autorin doch mit Hilfe der über 300 ausgewerteten Werke darlegen, in welcher Weise die Schweiz in dieser Zeit an ihrem eigenen Klischee gearbeitet hat (z. B. die Berge als einendes Element). Kantönligeist für die Schule «Eine Schweiz für die Schule. Nationale Identität und kulturelle Vielfalt in den Schweizer Lesebüchern seit 1900» von Barbara Helbling beleuchtet eine andere Seite der Medaille. In Anlehnung an Max Frischs Text «Wilhelm Tell für die Schule» (der laut Verena Rutschmann einen Wendepunkt im historischen Jugendbuch-Schaffen der Schweiz markiert) geht diese Studie jenem Textkorpus nach, das als quasi «unvermeidliches» Lesematerial nahezu flächendeckende Auswirkungen auf Kinder und Jugendliche haben musste und immer immer noch hat: den obligatorischen Schullesebüchern. Dabei interessierten Barbara Helbling in erster Linie die sogenannten Mittelstufen-Lesebücher (4. bis 6. Schuljahr). Da das Schulwesen in der Schweiz bekanntlich in kantonaler Kompetenz liegt, war es bis in die allerjüngste Vergangenheit allen Kantonen ein Anliegen, möglichst eigenständige Lesebücher herauszubringen. (Erst seit 1986/88 existiert ein einheitliches Lesebuch für die Romandie, seit 1991 liegen zwei Lesebuchreihen für die gesamte Deutschschweiz vor.) Als besonders interessant erweist sich die erste «Generation» der untersuchten Lesebücher (1900 bis 1920): Zu einer Zeit, in welcher das Vertrauen einzelner Kantone in den noch jungen Bundesstaat keineswegs gefestigt war, in welcher zudem Artikel 27 der revidierten Bundesverfassung von 1874 die Kantone dazu anhielt, «Vaterlandskunde» in Lehrpläne und Schulbücher aufzunehmen, bedeutete es für jeden Kanton eine besondere Herausforderung, «sein» Lesebuch zu gestalten - ging es doch auch um die Förderung einer kantonalen Identität. Die Studie trägt diesem Umstand Rechnung, indem die Lesebücher isoliert nach ihrem jeweiligen kantonalen Heimatgedanken untersucht werden. Das Ergebnis ist ein buntes und aus der Distanz gesehen geradezu satirisches Bild der einzelnen Regionen. In den Bemühungen der frühen Lesebuchschreiber(innen), ihren Kanton möglichst ins beste Licht zu rücken und seine jungen Bewohner zu brauchbaren Bürgern zu erziehen, war ihnen kein Bild zu pathetisch, keine Belehrung zu aufdringlich und keine historische Halbwahrheit zu peinlich. Bezüglich der gewünschten Tugenden erfreuten sich Fleiss, Anspruchslosigkeit und Sauberkeit besonderer Beliebtheit; das Bergbauernleben wurde als eigentliche schweizerische Bestimmung gefeiert. Die Romandie bildet wiederum eine Ausnahme. Einerseits galt auch für ihre Lesebücher ein literarischer Anspruch, der höher war als in der Deutschschweiz, andererseits wurde bereits stärker auf ein nationales Zusammengehörigkeitsgefühl hingearbeitet. Vom «Heimatschutz» zum Umweltschutz Wie Barbara Helblings Arbeit zeigt, fielen die beiden folgenden Lesebuchgenerationen (1920 bis 1960, 1960-90) gesamtschweizerisch deutlich einheitlicher aus. Während die Bücher der Zwischen- bis Nachkriegszeit im deutschen Sprachgebiet durch eine eklatante Zunahme von Mundarttexten, durch hartnäckig konservative Heimatbilder sowie das Ausklammern der Ereignisse der jüngeren Schweizer Geschichte (auch des 19. Jahrhunderts) gekennzeichnet sind, ist nach 1960 ein sukzessiver Abbau ideologischer Inhalte feststellbar. An die Stelle von Patriotismus tritt Umweltschutz, das Heimatmotiv wird in interkulturellen Themen gespiegelt, und literarische bzw. linguistische Qualitäten der ausgewählten Texte treten in den Vordergrund. Beide Studien sind mit einer ganzen Reihe zum Teil ebenso amüsanter wie aufschlussreicher Zitate angereichert. Das erhöht nicht nur den Lesegenuss entscheidend, sondern untermalt auch die von den Autorinnen aus den Jugend- und Lesebüchern dieses Jahrhunderts herausgearbeiteten Wunschselbstbildnisse der Schweiz in den buntesten Farben. Gerda Wurzenberger Verena Rutschmann: Fortschritt und Freiheit. Nationale Tugenden in historischen Jugendbüchern der Schweiz seit 1880. Chronos-Verlag, Zürich 1994. 241 S., Fr. 44.-. - Barbara Helbling: Eine Schweiz für die Schule. Nationale Identität und kulturelle Vielfalt in den Schweizer Lesebüchern seit 1900. Chronos-Verlag, Zürich 1994. 432 S., Fr. 58.-. Abgedruckt mit freundlicher Genehmigung der NZZ. Neue Zürcher Zeitung FEUILLETON 20.03.1996 Nr. 67 48