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Grenzen und Raumvorstellungen (11.-20. Jh.) – Frontières et Conception de l'espace (11e–20e siècles)
Clio Lucernensis, Band 3
Gebunden
1996. 346 Seiten, 22 Abbildungen s/w.
ISBN 978-3-905311-98-3
CHF 48.00 / EUR 27.00 
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«Die Grenze ist nicht eine räumliche Tatsache mit soziologischen Wirkungen, sondern eine soziologische Tatsache, die sich räumlich formt» (Georg Simmel). In diesem Sinne suchen die Beiträge die Konstruktion und Repräsentation von Grenzen und die damit verbundenen Raumkonzeptionen in aussereuropäischen Kulturen, in Geographie, Kirche und städtischer Gesellschaft des Mittelalters, im frühmodernen Staat und in nationalen Historiographien sowie zwischen Religionen und Konfessionen herauszuarbeiten.

Inhalt

Guy P. Marchal (Luzern): Grenzerfahrung und Raumvorstellungen. Zur Thematik des Kolloquiums
Denys Lombard (Paris): La notion de frontière et la conception de l'espace en Asie du Sud-est
Christian Kaufmann (Basel): Auf dem Boden der «Wir»-Leute - Grenzvorstellungen in Melanesien
Claudius Sieber-Lehmann (Basel): «Regna colore rubeo circumscripta». Überlegungen zur Geschichte weltlicher Herrschaftsgrenzen im Mittelalter
Patrick Gautier Dalché (Paris): Limite, frontière et organisation de l'espace dans la géographie et la cartographie de la fin du moyen âge
Klaus A. Vogel (Göttingen): «Plus ultra»? Grenzbewusstsein und Raumwahrnehmung im Prozess der Rezeption der überseeischen Entdeckungen
Hans Joachim Schmidt (Giessen): Die Antike als Traditionsstifterin für die kirchliche Raumgestaltung
Rosi Fuhrmann (Bern): Duobus modis dicitur territorium. Ueberlegungen zur Reziprozität von weltlicher Nutzung und kirchlichem Recht als Katalysator politischer Territorialisierung


Besprechungen

Ein Gespenst geistert durch die Geschichte: die Grenze. Verschont davon bleiben auch nicht wissenschaftliche Standardwerke neueren Datums wie etwa die «Geschichte der Schweiz und der Schweizer» (1986). Da heisst es doch im Kapitel «Die Verfestigung der Territorialherrschaft: die natürlichen Grenzen (1389­1460)»: «In der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts verfestigte sich ein autonomer Raum, der als eigenes und natürlich gewachsenes Ganzes erlebt und empfunden wurde. Vorerst war er begrenzt durch die Alpen im Süden, die Jurakette im Westen und den Rhein im Norden und Osten.» (248) Begriffe wie «natürliche Grenzen» und «autonomer Raum» sind nicht ohne Brisanz in einer Zeit, wo gerade die alten Grenzen der Eidgenossenschaft für so manch nationalistische und antieuropäische Argumentation herhalten müssen. Als wäre die Ausdehnung herrschaftlicher Territorien vorbestimmt durch geographische Merkmale wie Berge oder Flüsse, als wären herrschaftliche Grenzen auch Garanten für Autonomie und Identität. Solche Modelle sind stark beeinflusst von Grenzdiskursen der Neuzeit. Gerade weil im Europa des ausgehenden 20. Jahrhunderts die historischen Grenzziehungen zur Debatte stehen, tut es not, ihre Ursprünge genauer zu beleuchten.
Dieser Aufgabe widmete sich 1995 das Kolloquium «Grenzen und Raumvorstellungen (11.­18. Jh.) ­ Frontières et conceptions de l¹espace (11e­18e s.)» unter Federführung des Historischen Seminars der Hochschule Luzern. Im vorliegenden Band wurden die überarbeiteten Vorträge der Referenten und Referentin gesammelt und ergänzt durch einen Beitrag Aram Mattiolis über Grenzkonzepte und -konflikte im 20. Jahrhundert. Zwei Grundgedanken zeichnen Kolloquium und Textband aus. Die Frage nach der historischen Wahrnehmung von Grenzen geht von der Andersartigkeit mittelalterlicher Grenzkonzepte aus, und sie berücksichtigt die Vielfalt möglicher Wahrnehmungsebenen und -bereiche. So stehen am Anfang zwei Beiträge über aussereuropäische Kulturen und deren Raum-/Grenzkonzeptionen. Sie veranschaulichen, was Guy P. Marchal in der Einleitung des Bands anhand der Begriffsgeschichte von «Grenze» ausführt: die europäische, neuzeitliche Wahrnehmung von Grenzen ist direkt verknüpft mit der Verdichtung von Herrschaft und Administration seit dem Hoch-/Spätmittelalter. Dabei gilt es jedoch immer zu unterscheiden zwischen rechtlichen oder wissenschaftlichen Konzeptualisierungen des Raums und den physischen Grenzbildungen. Dies zeigt der Disput um die «lineare Grenze», welche sich nach gängiger Doktrin erst im Spätmittelalter aus dem früheren Grenzsaum entwickelt haben soll. Claudius Sieber-Lehmann weist in seinem Beitrag nach, dass schon für das Frühmittelalter Belege für lineare Scheidelinien existieren. Auch habe die «frontière», die militärisch verteidigte (lineare) Grenzlinie, ihre ideellen Wurzeln in den antiken (linearen) Provinzgrenzen, welche im Bereich der klerikalen Verwaltung durch das ganze Mittelalter hindurch erhalten blieben. Auf diese Verbindung von kirchlichem Recht und weltlicher Nutzung verweisen ebenfalls die Forschungsberichte von Rosi Fuhrmann und Hans Joachim Schmidt. Rosi Fuhrmann zeigt am Beispiel des spätmittelalterlichen Stiftungswesens, wie «Territorien» nicht nur durch physische Landnahme, sondern auch von einer symbolischen Sinnwelt aus begründet werden können. Gedachte und praktisch verwirklichte Grenze (hier der mittelalterlichen Pfarrei) unterstützen sich gegenseitig. «Wo Bannrechte geltend gemacht wurden, ist ­ auch wenn keine linearen Grenzen feststellbar sind ­ mit einem fortgeschrittenen Stadium von Territorialisierung zu rechnen.» (Fuhrmann, 188). Joachim Schmidt seinerseits verweist auf die Bemühungen der Kurie, der zunehmenden Abschliessung weltlicher Territorien gegenüber die Einheit und Eigenheit kirchlicher Bezirke zu erhalten. Deren Gestaltungsautonomie, begründet im textinhärenten Interpretationsspielraum ekklesiologischer Tradition, habe ein alternatives Raummodell zu politischen Herrschaftsgrenzbildungen ermöglicht. Besonders interessant ist der Beitrag von Guy P. Marchal für die Frage der «natürlichen» Grenzen. Wie Helmut Maurer befragt er Verbannungsurteile oberrheinischer und schweizerischer Städte auf die in ihnen sichtbar werdenden Grenzvorstellungen. Resultat: im zeitgenössischen Verständnis des 15. Jahrhunderts gibt es keine «natürlichen» Grenzen. Zwar wird der Raum zwischen Alpen und Rhein, die Eidgenossenschaft also, als übergeordnetes Territorium wahrgenommen, hinter dessen Grenzen die Verbannten verwiesen werden. Doch der Rhein bildete nicht die vorgegebene Begrenzung, sondern er wurde im Gegenteil erst im Zuge der politischen Entwicklung zur Nordgrenze. Erst im 19. Jahrhundert, das zeigt Aram Mattioli in seinem Beitrag zur Debatte um die Hochrheingrenze 1925­1947, setzte sich jenes Paradigma der «Rheingrenze» durch.
Der letzte Teil des Textbandes ist der Grenze als Trennlinie zwischen Kulturen und Religionen gewidmet, etwa mit einem Beitrag von Rainer C. Schwinges zu christlich-muslimischen Feind- und Selbstbildern im Heiligen Land des 12. und 13. Jahrhunderts. Diese Schlussposition ist geradezu symptomatisch für die historiographische Konzeptualisierung von Grenzen. Noch immer, und das dokumentieren Kolloquium und Textband deutlich, werden Grenzen primär im Kontext von Staats- und Nationalgeschichte oder als Element juristischer und wissenschaftlicher Diskurse thematisiert. Raumvorstellungen werden so nur erfassbar als Konzeptualisierung herrschaftlicher Räume. Dabei belegen die Forschungen von Peter Sahlins über die Pyrenäengrenze oder jene von Claudia Ulbrich über die Saargrenze deutlich: erst im Wechselspiel alltäglicher Handlungsstrategien (welche oft einer Gemengelage aus wirtschaftlichen, sozialen und religiösen Interessen entspringen) und zentralstaatlicher Interessen gewinnen politische Grenzen ihre Gestalt und Bedeutung. Um der Überformung spezifisch mittelalterlicher Grenz- und Raumvorstellungen durch neuzeitliche Diskurse wie jenen der «natürlichen Grenze» zu entgehen, müssten stärker als im vorliegenden Textband Konzepte aus Nachbardisziplinen wie der modernen Regionalgeographie oder der Kulturanthropologie mit einbezogen werden.

Daniel Hagmann (Basel)
traverse ­ Zeitschrift für Geschichte ­ Revue d'histoire 1998 / 03