Verfolgt man die Geschichte des Trams in Zürich, so wird klar, welche entscheidende Rolle dieses Verkehrsmittel für die Entwicklung der Stadt gespielt hat. Man kann die Stadt Zürich deshalb mit gutem Recht als «Tramstadt» bezeichnen. Hans-Rudolf Galliker beschreibt in seinem sorgfältig recherchierten und reich bebilderten Buch die Geschichte des Zürcher Trams und zeigt auf eindrückliche Art, wie eng der öffentliche Nahverkehr und die Stadtentwicklung in Zürich zusammenhängen.
Die Geschichte des Trams in Zürich beginnt mit der Planung einer Pferdebahn in den 1860er Jahren. Treibende Kraft war damals die wohlhabende Gemeinde Riesbach, die sich durch das Tram eine Steigerung ihrer Standortgunst erhoffte. Diese erste Tramlinie zwischen dem Stadtzentrum und Riesbach wurde 1881/82 eröffnet. Anfangs war das Pferdetram nur ein Luxusnahverkehrsmittel für die reicheren Schichten, an deren Bedürfnissen sich auch die Linienführung orientierte.
Ein Massenverkehrsmittel wurde das Tram erst um die Jahrhundertwende mit der elektrischen Strassenbahn. Zürich gehörte zusammen mit Genf zu den ersten Städten in der Schweiz, die bereits 1894 elektrische Strassenbahnen einführten. Der Durchbruch dieses Verkehrsmittels fiel in eine Zeit starken Wachstums der Städte und teils sich verschlechternder Lebensbedingungen in den Innenstädten. Das Tram als Massenverkehrsmittel ermöglichte das Wachstum an der Peripherie und die Entwicklung der Stadtkerne zu Dienstleistungszentren. Dieser Prozess dauerte in Zürich ca. 20 Jahre.
Nach dem Ersten Weltkrieg herrschte Wohnungsnot. Die Stadt Zürich forcierte den kommunalen und gemeinnützigen Wohnungsbau. Neben der Schaffung von neuen, gesunden Quartieren bildete auch die Sicherung breiter Grüngürtel als Naherholungsräume einen Teil des damaligen städteplanerischen Leitbildes. Der Ausbau des Tramnetzes (mit entsprechender Tarifgestaltung) wurde bewusst zur Umsetzung dieses Leitbildes eingesetzt.
Bereits vor dem Zweiten Weltkrieg wurde der motorisierte Individualverkehr immer wichtiger und in der Verkehrsplanung entsprechend berücksichtigt. Aber erst seit den 1950er Jahren nahm die Zahl der Automobile unaufhaltsam zu, gleichzeitig wuchsen die Siedlungen im städtischen Umland stark. Die städtische Verkehrsplanung und Verkehrspolitik der Nachkriegszeit war bis in die jüngste Zeit vom Versuch geprägt, das ansteigende Mobilitätsbedürfnis zu befriedigen. Neben Plänen für einen massiven Ausbau des Strassennetzes entstand in den 60er Jahren die Idee, den öffentlichen Verkehr unter die Erde zu verlagern. Die Ablehnung der zwei Grossprojekte Tiefbahn und U-Bahn in Volksabstimmungen führte schliesslich dazu, dass am bestehenden System des öffentlichen Verkehrs in Zürich grundsätzlich festgehalten wurde. Das Netz wurde schrittweise ausgebaut und modernisiert. Das Tram selbst wurde durch geeignete Massnahmen (u. a. neue Linien, Fahrplanverbesserungen, neues Rollmaterial) attraktiver gemacht, erhielt seine heutige Bedeutung als modernes und umweltschonendes Verkehrsmittel.
Verkehrsprognosen gehen davon aus, dass die Mobilität weiter zunehmen wird. Dieses Wachstum soll grösstenteils auf den öffentlichen Verkehr gebracht werden. Es bestehen zur Zeit Pläne für insgesamt 18 neue oder erweiterte Tramachsen, teils für die Erschliessung von Gebieten jenseits der Stadtgrenze. Ob alle diese Pläne realisiert werden, ist fraglich. Sicher ist aber, dass in Kürze eine neue Tramgeneration auf Zürichs Strassen fahren wird: das Niederflurtram Cobra. Der mit diesem Typ verbundene verbesserte Komfort wird die Attraktivität des Trams in Zukunft noch vergrössern und mithelfen, dass viele EinwohnerInnen Zürichs ihre innerstädtischen Mobilitätsbedürfnisse auch weiterhin auf umweltgerechte Art mit dem blau-weissen Verkehrsmittel befriedigen werden.
René Schilter (Zürich)
traverse Zeitschrift für Geschichte Revue d'histoire 1999 / 02