Die Schweiz als Nationalstaat
Neuerscheinungen zu einem problematischen Konzept
tmn. Das schweizerische Jubiläumsjahr - 150 Jahre Bundesstaat - hat die
Aufmerksamkeit verstärkt auf Begriffe gelenkt, die vertraut klingen und
doch in ihrer Anwendung auf die Schweiz stets umstritten geblieben sind:
Nation und Nationalstaat. Dank dem Jubiläumsbudget des Bundesamts für Kultur
hat Tobias Kästli die «Geschichte des Nationalstaats seit 1798» verfasst,
hat das Landesmuseum «Bildentwürfe einer Nation» dokumentiert und hat die
Allgemeine Geschichtforschende Gesellschaft der Schweiz (AGGS) Aufsätze über
die «Konstruktion einer Nation» herausgegeben.
Nationalstaat contra Imperialismus?
Kästli schildert in drei etwa gleich grossen Teilen die Helvetik, die
Vorgeschichte des Bundesstaats und den «Weg zur Gegenwart» ab 1848. Für die
Jahre von 1798 bis 1848 liefert er eine manchmal etwas oberlehrerhafte, aber
gut lesbare Darstellung der Verfassungs-, Ideen- und Ereignisgeschichte.
Die Konfliktbereiche zwischen Alt und Neu werden durch exemplarische
Exkurse vorgeführt, etwa zu einzelnen Kantonen, zu wichtigen Denkern wie
Constant oder Troxler und - verdienstvollerweise - zu zentralen politischen
Begriffen.
Problematisch ist dagegen der dritte Teil, wo der grosse Sprung über 150
Jahre misslingt. Zu bewältigen wäre er wohl nur durch eine reflektierte
Systematik anstelle einer etwas beliebigen, wenn auch politisch korrekten
Narration. Kann man die Geschichte eines Nationalstaats schreiben, ohne auf
das Militär, das Bildungs- und das Verkehrswesen einzugehen, die erst
nationale Zusammengehörigkeit erzeugen? Zu oft finden sich simple oder
schlicht falsche grosse Worte («Geschichte und Mythos waren bis zum
19. Jahrhundert eins gewesen»), zu selten werden sie auch belegt. So wirft
Kästli einleitend der «nationalistischen Geschichtsschreibung» des
19. Jahrhunderts vor, sie habe die Vorstellung «völkischer Einheit»
befestigen wollen; nach der Lektüre seiner Ausführungen, insbesondere zu
Carl Hilty, fühlt man sich eher bestätigt, dass sie gerade das - aus
offensichtlichen Gründen - nicht wollte.
Nicht nur die begriffliche Unschärfe führt manchmal auf Abwege, sondern auch
die edle Apologie des Nationalstaats, der im Sinne von Guéhenno oder
Bourdieu als demokratisches Gegengewicht zur globalisierten Wirtschaft
verstanden wird. Dieses in der omnipräsenten ersten Person Singular
greifbare Bekenntnis geht aus vom Gegensatz zwischen einem «guten»
Nationalstaat, der «nach innen und aussen ein friedliches Miteinander
postulierte», und einem «bösen», kapitalistischen Imperialismus - als ob
nicht von den Revolutionskriegen bis heute «nationale Fragen» am
erfolgreichsten zum blutigen Schlachten motiviert hätten. Man darf, wie der
Autor, darauf hoffen, dass der Nationalstaat der Zukunft in einer
Völkerrechtsgemeinschaft aufgehoben werde; doch verkenne man darob nicht
das aggressive, kriegtreiberische Potential, das der nationalen Idee von
Anfang an und jenseits ökonomischer Interessen auch innewohnt.
Nation als Konstruktion
Kästli definiert den Nationalstaat anhand objektiver Kriterien
(geschlossenes Territorium, einheitliches Recht und Volkssouveränität).
Abgesehen davon, dass bei einer solchen Definition etwa das deutsche
Kaiserreich von 1871 kein Nationalstaat wäre, vernachlässigt er damit die
subjektive Erfahrung der Nation, das Nationalgefühl. Neuere Ansätze betonen
dagegen gerade den fiktiven Charakter der Nation, die Halt gewährt, als die
traditionellen personalen Bindungen etwa in Zünften, Kommunen oder feudalen
Abhängigkeiten wegfallen. Diesen konstruktivistischen Charakter
dokumentiert die Ausstellung «Die Erfindung der Schweiz», die gegenwärtig im
Landesmuseum zu sehen ist, das seinerseits ja eine der wichtigsten
Institutionen war und ist, um das nationale Selbstverständnis zu inszenieren
und damit erst zu bilden. Die Behandlung der Nationen als «imagined
communities» wird durch den internationalen Vergleich fruchtbar, wenn etwa
Guy Marchal im Ausstellungskatalog nationalisierte Mittelalterbilder
konfrontiert. Über die - auch von Kästli geleistete - reine Darstellung der
mühseligen Judenemanzipation hinaus führt Patrick Kurys Frage nach der
Funktion antisemitischer Aus- und Abgrenzungen: Sie erlaubt der äusserst
disparaten schweizerischen Bevölkerung, sich durch eine «Negativbestimmung»
als nationale Einheit zu begreifen.
Vom Kantonalismus zum Nationalismus
Ebenfalls hinsichtlich der «Grenzziehung» untersucht Regina Wecker die
schweizerischen Einbürgerungskonzepte von 1798 bis 1998: Im 19. Jahrhundert
sind der Leumund, die Konfession und die ökonomischen Verhältnisse die
ausschlaggebenden Kriterien, im 20. wird die Fähigkeit zur Anpassung an
eine vage «nationale Eigenart» zentral. Aufschlussreich ist das Neuenburger
Beispiel, wie es, im Sammelband der AGGS, Thierry Christ vorstellt. Die
«Entkantonalisierung» der Bürgerrechtskriterien, wie er sie 1889 in der
Gesetzgebung festmachen kann, ist die Voraussetzung sowohl einer nationalen
Identität als auch der «Ausländerfrage». Es ist also ein langer Prozess im
letzten Jahrhundert, bis das «Wir»-Gefühl die im Wiener Kongress
festgelegten Grenzen erreicht. Gleichsam physisch erlebt wird das Land - so
Manfred Hettling im gleichen Band - durch Schweizer Reisen, Schützenfeste
und Landesausstellungen. Sandro Guzzi schildert am Tessiner Beispiel die
Herausbildung eines einheitlichen politisch-institutionellen Raums in
Abgrenzung gegen, ja als Reaktion auf das Staatsmodell in der
gleichsprachigen Nachbarschaft, die erst jetzt richtig zum «Ausland» wird.
Während in der Regeneration «Nation» für die Liberalen und insbesondere für
die Radikalen das Schlagwort ist, dessen wahre Entsprechung nur der
postulierte Bundes- oder Einheitsstaat werden kann (Ursula Meyerhofer),
dienen «nationale», gesamtschweizerische Identifikationsfiguren zur
Rechtfertigung der jeweils neuen Ordnung: 1798 sind es Tell und der
tugendhafte «homo alpinus» (Christoph Guggenbühl), 1854 werden - wie
gerufen - die «einfachen, egalitären und demokratischen» Pfahlbauer
entdeckt und zu Urvätern der Nation befördert (Marc-Antoine Kaeser). Als
solche werden sie im nächsten Jahrhundert auch mit wissenschaftlich
zweifelhaften Theorien gegen die nationalsozialistische Instrumentalisierung
verteidigt (Alexandra Rückert).
Reaktion auf fremde Modelle ist auch die anhaltende Auseinandersetzung in
der Armee zwischen der «nationalen Richtung», die das staatsbürgerliche
Ideal in einer von Frankreich inspirierten «nation armée» hochhält, und
Ulrich Willes «neuer Richtung», die nach preussischem Vorbild den
effizienten Befehlsempfänger erdrillen will (Rudolf Jaun). Während bei
solchen Themen manche Parallele zu ausländischen Entwicklungen deutlich
wird, zeigen sich anderswo auch die Unterschiede: Das föderalistische
Schulsystem belässt ausgerechnet den Geschichts- und Geographieunterricht
weitgehend im kantonalen Rahmen (Lucien Criblez/Rita Hofstetter), und
einem vom Bundesrat geplanten «Pantheon» berühmter Schweizer zieht das
Parlament dezentrale Projekte vor (Benedikt Hauser). Beim oft beklagten
«Kantönligeist» der Schweizer kann der Nationalismus nur bedingt zur
säkularen Ersatzreligion werden.
Tobias Kästli: Die Schweiz - eine Republik in Europa. Geschichte des
Nationalstaats seit 1798. Verlag NZZ, Zürich 1998. 538 S., Fr. 68.-.
Die Erfindung der Schweiz 1848-1998. Bildentwürfe einer Nation;
Sonderausstellung im Schweizerischen Landesmuseum in Zürich 26. Juni bis
4. Oktober 1998. Chronos-Verlag, Zürich 1998. 576 S., Fr. 48.-.
Urs Altermatt / Catherine Bosshart-Pfluger / Albert Tanner (Hrsg.): Die
Konstruktion einer Nation. Nation und Nationalisierung in der Schweiz,
18.-20. Jahrhundert (Die Schweiz 1798-1998: Staat - Gesellschaft - Politik,
Bd. 4). Chronos-Verlag, Zürich 1998. 296 S., Fr. 48.-.
Abgedruckt mit freundlicher Genehmigung der NZZ.
Neue Zürcher Zeitung POLITISCHE LITERATUR 14.09.1998 Nr. 212 33