Die dynamische Kraft des Fortschritts
Gewerkschaftliche Politik zwischen Friedensabkommen, Wandel und technischem Fortschritt: der SMUV
Broschur
1996. 316 Seiten
ISBN 978-3-905312-15-7
CHF 58.00 / EUR 32.50 
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Rationalisierungen, Produktionsverlagerungen, Massenentlassungen, neoliberale Markterneuerung: für die Gewerkschaften sind im Zuge der «Dritten Industriellen Revolution» harte Zeiten angebrochen.
Die Arbeit untersucht die Politik des SMUV, der grössten schweizerischen Einzelgewerkschaft, zwischen 1952 und 1985. Dabei kann der Autor auf eine Fülle von Quellen zurückgreifen, die erstmals einer kritischen Sichtung zugänglich waren. Es entsteht das Bild einer Gewerkschaft, deren Führung nach 1952 entschieden für eine moderne Schweiz eintrat. Die Sozialpartnerschaft bildete das Mittel, die Arbeiterschaft wirtschaftlich und politisch zu emanzipieren: Fortschritt wurde in den Ausbauraten des Friedensabkommens gemessen. Die gesellschaftlichen Turbulenzen der späten 60er Jahre, die Streikbewegungen in den 70er Jahren haben diese gewerkschaftliche Politik vor einige Schwierigkeiten gestellt, die in deutlichen innerverbandlichen Meinungsdifferenzen resultierten und schliesslich im Manifest 77 eskalierten. Die Studie dokumentiert die heiklen Balanceakte, zu welchen die Gewerkschaftsführung gezwungen war, um unter ungünstigen Voraussetzungen die Belegschaftsinteressen vertreten zu können. Dabei wurde um 1980 bei den starken industriestrukturellen Veränderungen die Enge ihrer Handlungsspielräume evident. Abschliessend geht die Arbeit auf gewerkschaftspolitische Möglichkeiten ein, die aus der momentanen technologischen Entwicklung entstehen.
Besprechungen
Wir alle wissen: Die Zeiten, da man ungestraft optimistisch vom Fortschritt sprechen durfte, sind lange vorbei. Was Rousseausche Zivilisationskritik für eine damalige Elite war, sind in unserer Gegenwart eine Vielzahl politischer Bewegungen, welche längst nicht mehr nur apokalyptische Fortschrittsszenarien entwerfen und die totale Verweigerung postulieren, sondern auf der Polyvalenz gesellschaftlich fortschrittlicher Entwicklung bestehen. Verdächtig erscheint die Rede vom Fortschritt allein schon durch sein Auftreten im Allein- und Allgemeingültigkeit markierenden Singular. Jener gesellschaftliche Konsens, der in der jüngeren Vergangenheit vorübergehend, für die Periode der Wirtschaftswunderjahre, eine solch hegemoniale, dem Singular verpflichtete Lesart garantiert hatte und Fortschritt gleichsam als eindimensional und irreversibel in die Zukunft gerichteten Pfeil verstand, ist vor mittlerweile drei Jahrzehnten mit anhaltender Wirkung brüchig geworden. Ein solcher ­ roter ­ Pfeil ziert den Umschlag von Angelus Eisingers Studie zur gewerkschaftlichen Politik des SMUV zwischen 1952 und 1985. Der Autor fragt in der als Dissertation bei Hansjörg Siegenthaler entstandenen Arbeit nach dem Verständnis, das der SMUV von eben diesem ­ primär technologisch verstandenen ­ Fortschritt entwickelte. Den Übergang von den «goldenen Jahren» zu «Rezession» und bis in die Gegenwart reichendem Krisenbewusstsein auf dem Hintergrund des «Fortschritt»-Denkens der grössten, durch die mikroelektronische «dritte» Industrialisierungswelle stark betroffenen schweizerischen Branchengewerkschaft, zu thematisieren, ist ein vielversprechender Ansatz. Zusätzliche Brisanz verschafft ihm der bekannte Umstand, dass die gesellschaftlichen Integrationsstrategien der Vertragspolitik und Friedenspflicht ­ praktisch Synonyme für den SMUV ­ recht eigentlich als Unterpfand für Prosperität durch Stabilität angesehen werden. Diese Untersuchungsanlage führt mitten hinein in jene «Normalität» der Ansichten und Meinungen, die sich dadurch auszeichnet, dass sie nicht direkt ausgesprochen werden muss. Wenig überraschend ist daher, jedenfalls aus kulturwissenschaftlicher Perspektive, der einleitend als bemerkenswert herausgestellte Befund, dass «über die weitaus längste Zeit der Untersuchungsperiode keine Belege [Š] für eine gewerkschaftsinterne Technologie-Auseinandersetzung» (18) zu finden sind. Dieser Befund passt auch zu der in der bestehenden Sekundärliteratur vertretenen und von Eisinger referierten Einschätzung, dass der SMUV lange Zeit ein affirmatives und quasinaturwissenschaftliches Technikverständnis teilte. Erst in den 1980er Jahren sah er sich zunehmend mit kritischen, nach Wirkungen von Technik fragenden Auffassungen konfrontiert. Naheliegend ist daher die Vermutung, dass die gegenwärtigen gewerkschaftlichen Schwierigkeiten mit dem Technikverständnis der Vergangenheit zu tun haben. Eisinger wählt, um dem Dilemma «fehlender» Technologiedebatten zu entkommen, einleuchtenderweise die Strategie, die Frage nach der «Behandlung des technischen Fortschritts in der SMUV-Spitze explizit in den weiteren Kontext gewerkschaftlicher Politik seit dem Zweiten Weltkrieg zu stellen». (19) Ein solches Unterfangen lässt sich auf verschiedene methodologische Grundlagen stellen. Eisinger verknüpft seines mit den Fragen nach dem «kollektiven Entscheidungs- und Lernverhalten» beziehungsweise nach den Bedingungen für «sozioökonomische Lernprozesse» und rekurriert damit auf das mit dem Namen von Hansjörg Siegenthaler verbundene makroökonomische, um kommunika-tions- und handlungstheoretische Elemente bereicherte Erklärungsmodell des sozialen Wandels. In dieser Perspektive soll zwar die oben genannte Vermutung, die heutigen gewerkschaftlichen Orientierungsprobleme wurzelten in dem allzu lange unkritisch-positiven Fortschrittsverständnis, als These aufrecht erhalten werden. Indessen zielt der Autor dahin, diese fortschrittskritisch alimentierte Sicht einem differenzierteren, Objektivität erheischenden Analyseverfahren zu unterwerfen: Es gelte, «systematische Gründe» zu benennen, welche das «verzögerte Eintreten in sozioökonomische Lernprozesse» erklären können, wobei diese Lernprozesse gemäss theoretischer Vorgabe aus den «Interessenlagen, den verschiedenen Handlungsrestriktionen und den Orientierungsproblemen der gewerkschaftlichen Eliten abzuleiten» (19) seien. Was hier verkürzt angedeutet ist, vertieft der Autor in einer kenntnisreichen theoretischen Einleitung. Für die Untersuchung von Bedeutung ist seine Begriffsbildung der «umfassend-integrierten Organisation» (26) als Formel für das organisatorische Gebilde einer Gewerkschaft: umfassend im Sinne der Interessenabdeckung eines gewichtigen Teils einer Branche, integriert im Sinne einer Problemlösungsstrategie innerhalb des geltenden gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Systems. Beide Elemente dieser Definition, so legt der Autor dar, wirken sich auf Lernprozesse verlangsamend und einschränkend aus, denn: Eine solche Organisation wird diesbezüglich vor allem dann aktiv, wenn sie ihre Repräsentanz (sprich: ihre Mitglieder respektive deren Vertrauen) verliert. Dabei wird sie ihr Umlernen oder ihre Öffnung gegenüber neuen technologischen Ansichten immer so ausrichten, dass die «Stabilitätsbedingungen wirtschaftlicher Entwicklung oder das Vertrauenskapital auf der Arbeitgeberseite» (43) intakt bleiben. Das Dilemma, so wird es hier dargelegt, scheint für eine «umfassend-integrierte Organisation» programmiert: Herausforderungen wie die mikroelektronische Revolution können nicht zu einem fundamentalen, und schon gar nicht zu einem kurzfristigen Wechsel der gewerkschaftlichen Strategie führen. Dagegen handelt sich ein solches, bildhaft gesprochen schwer im Wasser liegendes Schlachtschiff durch sein konservativ-standhaftes Verhalten längerfristig ­ und das heisst im Gleichschritt mit dem gesamtgesellschaftlichen Einschwenken auf eine neue Ansicht ­ wieder reale Handlungsmöglichkeiten ein. Was bringt ein solches Modell für die Analyse des Fortschrittsverständnisses des SMUV in der Empirie? Um es auf einen generalisierenden Nenner zu bringen: Es erlaubt, die SMUV-Politik aus der Innensicht heraus darzustellen und das Agieren der SMUV-Elite an ihrer eigenen organisationsspezifischen Konstellation und den daraus resultierenden Leitsätzen entlang zu interpretieren. Weitgehend aus dieser Perspektive ­ quellenmässig auf Protokollen, Vertragstexten, internen Positionspapieren und dergleichen fundiert ­ durchschreitet man materiell wohl alle relevanten gewerkschaftlichen Tätigkeitsfelder zwischen den 1950er und den 1980er Jahren: von der Ausgestaltung des Vertrags zum «Instrument des Fortschritts» über die legendäre «Produktivitätskommission» als neue Verhandlungsform industrieller Beziehungen bis hin zu den Erschütterungen der «Elite» durch die Einforderung vermehrter Mitsprache der Basis. Teilkapitel sind den Wirtschaftswunderthemen Reallohnerhöhung, Arbeitszeitverkürzung und ausländische Arbeitskräfte gewidmet. Allerdings strebt diese Innensicht nicht nach jener Dichte, welche die Mikrohistorie zum Konzept erhoben hat. Auf der Ebene der konkreten Quellenbearbeitung und der Produktion eines historiographischen Textes scheint der gewählte handlungs- und kommunikationstheoretische Ansatz wenig Handfestes zu bieten. So verbleiben wir zumeist auf einer inhaltlich-vordergründigen, den Verlauf einzelner Debatten oder Verhandlungen nachvollziehenden Darstellung, abgeschlossen mit einer bilanzierenden Bewertung des Ergebnisses. Daraus resultiert wohl eine gute Übersicht der wichtigsten Profilierungsfelder des SMUV, man wünschte sich jedoch, dass das bisweilen zum Uferlosen neigende Pingpong zwischen der SMUV-Führung und ihrem jeweiligen Gegenüber, zumeist dem ASM oder den Mitgliedern, etwas weniger breit, dafür stringenter an die übergreifende Frage des Technikverständnisses angebunden worden wäre. Wenig Veranlassung bietet der handlungs- und kommunkationstheoretische Zugang offenbar, die in dieser Studie so zentralen Akteure, die Elite des SMUV, (kollektiv)biographisch und sozialgeschichtlich zu behandeln. So eindringlich der Autor die ­ gemäss dem Modell der «umfassend-integrierten Organisation» ­ für die Gewerkschaftsspitze jeweils zwingenden Handlungsmotivationen aufzeigt, so problematisch erscheint die Tendenz, dem theoretisch herausgestellten ­ und von der SMUV-Elite gelebten ­ Dilemma zu verfallen, das den Königsweg gewerkschaftlicher Politik allein in der Vertragspolitik zu sehen vermag. Das lässt sich am deutlichsten darin fassen, dass Aussenperspektiven in dieser Untersuchungsanlage stark unterentwickelt bleiben. Der da und dort konzedierte Befund einer nur mässig erfolgreichen Verhandlungstaktik etwa bemisst sich lediglich an dem von der SMUV-Spitze jeweils erstrebten Ziel, und Errungenschaften wie Arbeitszeitverkürzungen und Reallohnerhöhungen bleiben insofern ungewichtet, als kein systematischer Vergleich mit anderen Branchen oder dem Ausland angestrebt wird. So bleibt denn auch die von Bernard Degen überzeugend dargelegte Sicht, die Friedenspflicht habe sich materiell nicht ausgezahlt, merkwürdig undiskutiert. Dieses Manko ist, so scheint mir, nicht einfach eine bedauernswerte Nebenerscheinung, es ist vielmehr Ausdruck einer politischen Haltung. Die «systematischen Gründe», nach denen Eisinger zwecks besserem Verständnis des verzögerten Eintretens auf die sich wandelnde gesellschaftliche Technologiedebatte sucht, produzieren entgegen ihrem Anschein kein neutrales Bild: Als objektivierende Strategie zielen sie vorab auf die Rückbindung und Relativierung einer von politisch links stehenden Kreisen innerhalb und ausserhalb des SMUV vorgetragenen Kritik, welche die aktuellen Probleme des SMUV gerade mit seiner allzu lange unkritischen Technik- und Zukunftsgläubigkeit in Verbindung brachte, der Organisation eine verkrustet-konservative, allzu arbeitgebernahe Haltung attestierte und radikale Reformen ­ namentlich einen Bruch mit der Vertragspolitik ­ forderte. Wenn uns der Autor also anstatt der ­ kritischen und politisch links verorteten Aussensicht ­ die Innenperspektive des SMUV und jenen schmalen Rest an Handlungsoptionen vorführt, aus dem sich dessen langfristig stabilitätsorientierte Politik verstehen lasse, lernen wir zwar einiges über die Natur einer sich als alternativlose Zwangsläufigkeit präsentierenden Normalität. Allerdings, so muss man beifügen, lernen wir dies nur dann, wenn wir uns einer Lektüre befleissigen, welche über die präsentierte systemimmanente Logik hinausgeht ­ einer Lektüre, welche jene Reflexionsfähigkeit nicht aufgibt, die ausserhalb des Analysemodells einer «umfassend-integrierten Organisation» gründet und dieses folglich hinterfragen kann. Gerade das versagt sich Eisinger, wie ich meine, in einer Weise, die den objektivierend-analytischen Anspruch in Frage stellt. Denn an jenem Punkt, wo sich Analysemodell und gesellschaftlich-politisches Selbstverständnis der untersuchten Organisation wechselseitig bestätigen und unangreifbar machen, beginnen ideologische Prozesse. Damit verkehrt sich in den Augen der Rezensentin das Analysemodell der «umfassend-integrierten Organisation» in sein Gegenteil: Es produziert nicht mehr Analyse, sondern reproduziert und legitimiert lediglich die Innenperspektive der untersuchten Organisation und der ihr eigenen Weltsicht ­ in diesem Fall einer dem Mythos Sachzwang gehorchenden «Normalität». Beatrice Schumacher (Basel) traverse ­ Zeitschrift für Geschichte ­ Revue d'histoire 2000 / 02