Das 1910 eröffnete alkoholfreie Volkshaus war nicht als «Kathedrale des Sozialismus» gedacht. Weder initiierte die Arbeiterschaft den Bau, noch förderte sie ihn. Vielmehr realisierte das verängstigte Bürgertum ein «Bildungs- und Erholungszentrum der edelsten Art» für das rasch wachsende und zunehmend renitente Industriequartier Aussersihl.
Das Zürcher Volkshaus ist ein Sonderfall - und doch exemplarisch. Seine Geschichte spiegelt die bürgerlichen Integrationsbestrebungen, die Stadtentwicklung, die Kloakenreform und handelt von Elends- und anderen Quartieren, Bade- und Kaffeestuben, Lesesälen, Theatern, Tingeltangel, Wirtshäusern, Aufruhr, Streiks und Militäreinsätzen. Abstinenzler, Pfarrer, Sozialreformer und Damen der guten Gesellschaft planen 1893 einen Bau, in dem sie die arbeitende Klasse dem «Schönen, Wahren, Guten und Heiligen» zuführen wollen. Das Volkshaus kommt aber erst zustande, als die Behörden nach dem Aussersihler Krawall 1896 das Projekt als «Massregel gegen Ruhestörungen» wiederaufgreifen.
Dass das «Volksheim» vorübergehend doch zur «Revolutionszentrale», nach General Wille 1918 sogar zum «Gouvernementspalast der Bolschewikiregierung» avanciert, liegt nicht in der Absicht der Initiantinnen und Initianten. Auch nicht, dass es militärisch besetzt wird, die rote Fahne hisst und Lenin hier die russische Revolution propagiert. Das zum Klassenkampfsymbol gewordene Zentrum lässt das Bürgertum zunehmend kompromisslos reagieren. Bei Krawallen und Massenstreiks ist das Haus immer wieder heiss umkämpft.
Die Autorin legt arbeiter-, kultur-, sozial-, bau- und ereignisgeschichtliche Stränge aus und verknüpft sie auf dem Hintergrund des Volkshauses. Sie hat eine Fülle von Quellen aufgearbeitet und erschliesst den Leserinnen und Lesern ein spannendes, weitgehend unbekanntes Stück Stadt- und Quartiergeschichte. Indem sie Volkshäuser in- und ausländischer Industriestädte zum Vergleich heranzieht, bindet sie die expandierende Industriemetropole Zürich und ihr Volkshaus aber auch in übergeordnete Zusammenhänge ein. Das heute etablierte Volkshaus - jetzt wie damals als Gewerkschaftsbürohaus, Versammlungs- und Veranstaltungsort vielfältig genutzt - ist in seinen Anfängen Ort heftiger politischer und sozialer Kontroversen der Zeit. Es gewinnt so - über die lokale Bedeutung hinaus - auch Beachtung als kleiner Brennpunkt grosser historischer Umbrüche.